Nie wieder Gleichgültigkeit
Das „Nie wieder“ unserer ‚Erinnerungskultur’ sollte sich nicht nur auf das singuläre Menschheitsverbrechen der Shoah beziehen, sondern auch auf die Gleichgültigkeit vieler Mitmenschen, die dieses Verbrechen mit ermöglichte und die uns lehrt, nie wieder indifferent gegenüber Inhumanität zu bleiben.
Ein Gastbeitrag von Thomas Tews (KV Stuttgart)
Martinskirche
An der Fassade der 1937 in Stuttgart-Nord eingeweihten Martinskirche findet sich eine Tafel, auf der zu lesen ist:
„Zur Erinnerung / Zum Gedenken / Zur Mahnung // An dieser Kirche vorbei wurden zahllose, vor allem jüdische Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu den Bahngleisen des Nordbahnhofs geführt und in Elend und Tod geschickt. // Unter den Augen der evangelischen Martinsgemeinde wurden sie deportiert. // 1941–1945 / 1991“.
Unter den am 17. Juni 1943 vom Stuttgarter Nordbahnhof ins Konzentrationslager Theresienstadt deportierten Jüdinnen:Juden befand sich die 45-jährige Stuttgarter Chemikerin Martha Haarburger (1898–1978), die ihre damaligen Eindrücke später wie folgt schilderte:
„Dies alles ereignete sich in einer feindlichen Umwelt. Wir waren von Feinden und Gleichgültigen umgeben“.
Die Gleichgültigen, die nicht sehen wollten, beschrieb die seinerzeit in Stuttgart lebende Schriftstellerin, Pazifistin, SPD-Politikerin und Frauenrechtlerin Anna Haag (1888–1982) in einem Tagebucheintrag am 13. Juni 1942, also zu einem Zeitpunkt, als bereits rund die Hälfte aller Stuttgarter Jüdinnen:Juden deportiert worden war, mit folgenden Worten:
„Das Leben ist für die Sehenden voller Grausen. Für die Sehenden, sag ich. Leider, leider gibt es noch viele, viele Blinde! So lange sie nicht verhungern, ihr Haus nicht zerbombt ist, der Krieg weit genug weg von ihnen tobt: was geht sie alles andere an? Vor allen Dingen: Viel zu wenige leiden Qualen der Scham und des unterdrückten Zornes darüber, was Deutsche im Namen der ‚neuen Ordnung’ für Grauen verbreiten.“
Gleichgültigkeit in Geschichte und Gegenwart
Der jüdische Schriftsteller, Hochschullehrer und Publizist Elie Wiesel (1928–2016) wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, überlebte und erhielt 1986 für seine Botschaft des Friedens, der Versöhnung und der Menschenwürde den Friedensnobelpreis. Im selben Jahr hielt er auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum in Niedersachsen einen Vortrag unter dem Titel „Erinnerung gegen die Gleichgültigkeit“. Darin führte er aus:
„Einige meiner Freunde hier, denen ich schon früher begegnet bin, wissen, daß ein Schlüsselwort in meiner Weltanschauung ist: der Kampf gegen Gleichgültigkeit. Wenn es ein Wort gibt, das ich in Ihnen einwurzeln möchte, dann ist es dies: Gleichgültigkeit ist eine Gefahr, Gleichgültigkeit ist ein Übel. Ich habe das oft gesagt, aber ich wiederhole es für Sie, weil ich Ihnen nicht früher begegnet bin. Ich habe immer daran geglaubt, daß das Gegenteil von Liebe nicht Haß ist, sondern Gleichgültigkeit.“
Für den römischen Staatsmann und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) war die „historia“ (Geschichte) die „magistra vitae“ (Lehrmeisterin des Lebens). Knapp zwei Jahrtausende später war Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in dieser Hinsicht etwas pessimistischer: „Aber leider ist selbst das kaum Vergangene für den Menschen selten belehrend“. Doch mit unserer Nie-wieder-‚Erinnerungskultur‘, derer wir uns rühmen, erkennen wir implizit das Ciceronische Postulat an. Das gleichgültige Wegsehen vieler Menschen – etwa der eingangs erwähnten Mitlieder der evangelischen Martinsgemeinde in Stuttgart-Nord –, als ihre jüdischen Mitmenschen deportiert wurden, sollte uns zur Mahnung gereichen, bei allen Formen von Inhumanität genau hinzusehen und unsere Stimme gegen sie zu erheben (ohne die Shoah, die nach Hannah Arendt [1906–1975] „in der Geschichte ohne Beispiel ist“, in irgendeiner Weise mit gegenwärtiger Inhumanität parallelisieren zu wollen).
Mittelmeer
Ein derartiger historisch abgeleiteter humanitärer Imperativ würde es uns beispielsweise nicht gestatten, weiterhin dem Sterben im Mittelmeer mehr oder weniger gleichgültig zuzusehen. Seit 2014 starben auf den lebensgefährlichen Flucht- und Migrationsrouten über das Mittelmeer zur ‚Festung Europa’ mehr als 27.000 Menschen. Das Mittelmeer mag zwar weit weg erscheinen, doch im Zeitalter des World Wide Web liegt es quasi vor unserer Haustüre. Die Frage ist nur, ob wir bereit sind, hinzusehen.
In einer der unzähligen Tragödien auf dem Mittelmeer kenterte am 3. Oktober 2013 ein alter Fischkutter mit mehr als fünfhundert geflüchteten Männern, Frauen und Kindern achthundert Meter vor der italienischen Insel Lampedusa, wobei 366 Menschen im Mittelmeer ertranken. Seitdem versucht die Mailänder Forensikerin Cristina Cattaneo in jahrelanger akribischer Arbeit, die Opfer zu identifizieren, um ihre Familien zu informieren. In Ihrem Buch „Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers“ erblickt Catttaneo in dem geborgenen Wrack des untergegangenen Fischkutters ein Mahnmal, ein Symbol und einen Appell:
„Der ‚Barcone’ war das perfekte Mahnmal, um das Risiko dieser Überquerungen, die Verzweiflung, die die Menschen zur Abreise – oftmals zu einer wahren Flucht – trieb, zu veranschaulichen. […] Der ‚Barcone’ ist ein Symbol für die Verzweiflung ganzer Generationen, für das, was vor den Augen Europas und dessen nach eigener Auffassung so zivilisierten, demokratischen und liberalen Parlamenten geschieht: Auf Schiffe gepfercht, die sich kaum von den alten Sklavenschiffen unterscheiden, versuchen Teenager und junge Leute, vor einem Krieg, vor Verfolgung oder Hunger zu flüchten, und verlieren dabei ihr Leben. Das Schiff mahnt vor dem, was nie wieder passieren darf, oder vielleicht eher davor, wie einfach es ist, zu vergessen oder nicht hinschauen zu wollen. Nicht zum ersten Mal hatten wir es versäumt, hinzuschauen, hatten wir vergessen. […] Unabhängig vom ganzen Spektrum der möglichen politischen Wege zur Lösung des aktuellen Migrationsproblems ist der ‚Barcone’ ein Appell, sich für Lösungen zu engagieren, die mit den Menschenrechten im Einklang stehen.“
In seinem Vorwort zu Cattaneos Buch schreibt der Journalist und Buchautor Sacha Batthyany:
„Cattaneos Arbeit ist eine leise Arbeit, fern der großen Bühnen, auf denen Politiker Reden halten, um sich für die nächsten Wahlen zu profilieren. Durch ihr Mikroskop blickt sie auf eine menschliche Tragödie, die sich vor unserer Haustür abspielt – in einem Europa, das doch so stolz ist auf seine Erinnerungskultur, jedoch am liebsten alles vergäße, was das tägliche Sterben im Mittelmeer angeht. Mit der Akribie der Wissenschaftlerin stemmt sie sich gegen die herrschenden politischen Kräfte, gegen das Verdrängen und die wohl niederträchtigste aller menschlichen Geißeln: die Gleichgültigkeit.“
Der Schriftsteller und Publizist Navid Kermani beschreibt in seinem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. April 2015 veröffentlichten Artikel „Die europäische Idee versinkt. Das Mittelmeer als Massengrab“, wie „alle Nachrichten von Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer […] von zweihundert oder vierhundert oder sechshundert Toten“ mehr oder weniger an uns abprallen: „Das sind nur Zahlen, wir sehen die Ertrunkenen ja nicht, wir kennen nicht ihre Geschichten. Deshalb vergessen wir diese Zahlen so schnell und mit ihnen die Versprechen der Europäischen Union, solche Katastrophen künftig verhindern zu wollen.“ Er konstatiert: „Vor unseren Urlaubsstränden liegt ein Massengrab.“ Dem politischen Fingerzeig auf die Schlepperbanden entgegnet er, es werde „sie geben, solange Menschen keine legale Möglichkeit haben, vor Elend, Unterdrückung und Tod zu fliehen“. Auch zum Thema Seenotrettung fällt Kermanis Bilanz bitter aus: „Seenotrettung? Mit der Gründung der sogenannten Frontex-Agentur hat die Europäische Union dafür gesorgt, daß die Flüchtlingsboote immer längere, immer gefährlichere Routen in Kauf nehmen, um den europäischen Kriegsschiffen auszuweichen. Aus den zwölf Kilometern, die Spanien und Marokko an der schmalsten Stelle trennen, wird deshalb oft eine Odyssee von mehreren hundert Kilometern. Das einzige Programm, das effektiv Menschenleben gerettet hat, war die italienische Aktion Mare Nostrum, die am lautesten von Deutschland kritisiert und nach einem Jahr mangels EU-Finanzierung eingestellt worden ist.“ Daher konkludiert Kermani, „daß sich Europa im Mittelmeer eines der großen Verbrechen unserer Zeit schuldig macht“.
Die europäische Abschottung und das dadurch erzeugte Leid auf dem Mittelmeer bilden für die Philosophin Henrike Kohpeiß Manifestationen dessen, was sie „bürgerliche Kälte“ nennt. In ihrem vor Kurzem erschienenen Buch „Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität“ stellt sie die „Frage, was es der europäischen Öffentlichkeit erlaubt, täglich das inzwischen völlig klar zutage getretene Leiden auszuhalten, ohne überzeugende Versuche zu unternehmen, es zu beenden“. Ihrer Ansicht nach „basiert die Gleichzeitigkeit von tödlichen europäischen Außengrenzen und moralischer Selbstzufriedenheit derjenigen, die von ihnen geschützt werden, auf einer besonderen Formation der Vernunft, die sich als Kälte verwirklicht […]. Kälte ist die affektive Ermöglichungsbedingung verwalteter Gewalt in Europa und gedeiht im Weltverhältnis bürgerlicher Subjekte der Gegenwart – oder diese Subjekte gedeihen im Schutzraum der Kälte.“
Geschwisterlichkeit statt Gleichgültigkeit
Am 4. Februar 2019 unterzeichneten Papst Franziskus und Großimam Ahmad Al-Tayyeb in Abu Dhabi eine gemeinsame Erklärung zur „Brüderlichkeit aller Menschen“. Darin bekräftigen sie „die feste Überzeugung, dass die wahren Lehren der Religionen dazu einladen, in den Werten des Friedens verankert zu bleiben; dass sie dazu anregen, die Werte des gegenseitigen Kennens, der Brüderlichkeit aller Menschen und des allgemeinen Miteinanders zu vertreten; dass sie darauf hinwirken, dass die Weisheit, die Gerechtigkeit und die Nächstenliebe wiederhergestellt werden […], um die neuen Generationen […] vor der Gleichgültigkeit zu schützen“.
„Brüderlichkeit“ bedeutete für den Philosophen John Rawls (1921–2002), „daß man keine Vorteile haben möchte, die nicht auch weniger Begünstigten zugute kommen“. Eine so verstandene Geschwisterlichkeit aller Menschen, bei der jede:r „sich in die Stelle jedes andern versetzt“, wie es Immanuel Kant (1724–1804) formulierte, vertrüge sich selbstverständlich nicht mit Indifferenz gegenüber Inhumanität wie der tödlichen europäischen Abschottungspolitik. Wenn es uns also gelänge, die Emotion der Gleichgültigkeit durch die der Geschwisterlichkeit zu ersetzten, wäre ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer humaneren Welt gemacht.