Der Fall AssadsGrund zum Aufatmen und Abschieben?
Der Kollaps kam schneller, als wir alle dachten. Noch vor zwei Wochen hörte man von einer kleinen Offensive syrischer Rebellen, der man zunächst keine Beachtung schenkte. Dann begannen sich die Meldungen in den Medien zu überschlagen, „Aleppo fast ohne Kampf gefallen“, „Hama unter Druck, Gegenoffensive läuft“, „Hama erobert Homs, steht vor der Erstürmung“ und dann die Schlagzeile, die sich viele seit über einem Jahrzehnt gewünscht haben. „Damaskus erobert, Assad auf der Flucht“. Ein Artikel geschrieben von Julius Keller (KV Ostab).
Und was nun? Die Rebellen möchten eine neue Verfassung erlassen und eine neue Regierung bilden und sich dafür übergangsweise auf die alten Minister des Assad-Regimes stützen, das soll den Staat vor einem erneuten Zerfall bis zur Vereidigung der neuen Regierung bewahren. Nun, dass die Minister des alten Regimes keineswegs unschuldig sind, ein Volk kann man nicht allein unterdrücken, sei mal dahingestellt. Immerhin könnte es dabei helfen, die chaotische Lage in Syrien schneller wieder unter Kontrolle zu bringen, da jetzt so frisch nach dem Sturz eines Regimes, das unter Baschar al Assad seit über 24 Jahren bestand, die Situation in vielen Regionen immer noch recht volatil ist. Denn in vielen Regionen Syriens finden immer noch Kämpfe, zwischen unterschiedlichsten Fraktionen statt, unter ihnen auch der vernichtet geglaubte IS. In Anbetracht dieser Umstände ist nicht klar, wie die aktuell dominante HTS es schaffen will, die regionalen Kräfte zur Aufgabe ihrer Macht zu bewegen, ohne neue Kriege oder eine weitere Zersplitterung Syriens zu riskieren. Auch ist unklar, was sich die HTS-Führung überhaupt unter einer neuen Regierung vorstellt: freie Wahlen und eine Demokratie, eine neue Diktatur unter Führung von Rebellenführer Al-Scharaa oder ein neuer Gottesstaat, sprich ein neues Kalifat? Dieses wäre für die Bewohner Syriens vermutlich, abgesehen von der versprochenen Stabilität, kaum eine Verbesserung der Lage ihrer Menschenrechte, insbesondere die Rechte der Frauen würden vermutlich noch stärker beschnitten, als sie es jetzt bereits sind. Die Option der Demokratie, so gut sie für Menschen insbesondere Frauenrechte wäre, ist auch nicht für sehr wahrscheinlich zu halten, denn die HTS wird kaum Syrien erobert haben, um es dann eventuell bei freien Wahlen an andere politische Kräfte, wie z. B. eine neugegründete Baath-Partei (alte Regierungspartei unter Baschar al Assad), zu verlieren. Sprich in Syrien wird es auch auf längere Sicht vermutlich keine stabile und freie Regierung bzw. Gesellschaft geben und man darf nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, indem man die neuen Herrscher immer durch die rosarote Brille betrachtet. Dieser Fehler wurde in Syrien schon bei Assad 2000 gemacht, er sollte jetzt tunlichst nicht wiederholt werden.
Und in diese chaotische Situation hinein möchten jetzt AfD und CDU/CSU sofort wieder abschieben. Kaum war die Nachricht vom Sturz Assads um die Welt gegangen, öffneten sich die Schleusentore und es wurde so getan, als ob Syrien jetzt auf einmal wieder ein sicheres Herkunftsland wäre, was es seit Jahren schon nicht mehr ist. Syrien ist heute kein Stück sicherer oder stabiler als vor zwei oder drei Wochen. Jetzt ist zwar eine entscheidende und lange Phase des Bürgerkriegs vorbei, doch von seinem Ende zu sprechen, wäre zu voreilig, denn in ganz Syrien sind nach wie vor große Gruppen an Kämpfern unterwegs und es gibt immer noch Gefechte in verschiedensten Regionen zwischen den einzelnen Rebellenfraktionen. Die Phase des Kampfes mit dem bisherigen Regime und damit dem eigentlichen Ziel des Bürgerkrieges ist zu Ende, aber dass nun die einzelnen Fraktionen, namentlich HTS( moderate Islamisten) SNA (von Türkei unterstützte Miliz) und die SDF (Kurden im Norden Syriens) schnell einig werden und ein dauerhafter Frieden entsteht, ist nicht gesagt. Es könnte auch mit Assads Flucht, und das wird sich noch zeigen müssen, lediglich eine neue Phase des Bürgerkriegs beginnen. Nun zurück zum Thema, das jetzt in Deutschland alle beschäftigt. Die wohl wichtigste Frage für geordnete, somit rechtskonforme Abschiebungen, mit wem setzt man sich jetzt in Verbindung, um nach Syrien abzuschieben? Mit den Kurden im Norden? Den Milizen, die von der Türkei unterstützt werden (SNA) oder der HTS? Selbst wenn man sich jetzt mit einer der Gruppen einigen könnte, was, wenn die abzuschiebende Person gar nicht aus dem Gebiet der jeweiligen Gruppe kommt? Soll die Person dann einfach in die Ungewissheit und Unsicherheit einer vollständig unbekannten Umgebung entlassen werden? Dass fehlendes Geld und Sicherheit in der Regel nicht zu einem gesenkten Kriminalitätsrisiko in der neuen alten Heimat beitragen und somit die Gesellschaft in Syrien weiter destabilisieren würden, wird auch hier außen vorgelassen. Nein, nach Syrien darf es unter den aktuellen Umständen auf gar keinen Fall Abschiebungen geben, eine Person in diese Situation zu werfen, ist unverantwortlich und nicht mit der Menschenwürde zu vereinbaren. Es sollte viel eher daran gearbeitet werden, schnellstmöglich positive Anreize zur Rückkehr zu schaffen, sprich beim Wiederaufbau und der Stärkung der syrischen Wirtschaft behilflich zu sein, um für alle, die zurückkehren wollen, es aber aufgrund der großen Gefahr und Ungewissheit nicht können, die Voraussetzungen für eine stabile und lebenswerte Existenz zu ermöglichen. Denn niemand soll an der Rückreise in die alte Heimat gehindert werden, aber es darf auch niemand mit Push-Faktoren aus Deutschland gemobbt werden. Jeder soll aus freien Stücken sich für die Rückreise entscheiden und nicht aufgrund von Marginalisierung und Leistungskürzungen dazu gezwungen werden. Für alle Schutzsuchenden, die hiesiges Recht brechen, gibt es das Strafgesetzbuch und die deutsche Rechtsprechung, alle anderen sollten hier mit offenen Armen empfangen werden. Nicht nur aus Gründen der Menschenrechte, des GGs und der Hoffnung auf ein besseres Leben bei uns. Sondern auch, weil wir in Anbetracht des demografischen Wandels mehr Menschen in diesem Land brauchen, die in den Arbeitsmarkt einsteigen können, da sich diese Lücke zwischen Geburten- und Sterberate niemals zeitnah mit einer gesteigerten Geburtenrate schließen lassen würde. Auch weil sich gerade junge Menschen in Zeiten von Kriegen, Klimakatastrophen und Lebenshaltungskostenexplosion kaum vorstellen können, mehr Kinder zu bekommen, weil sie es sich schlicht immer weniger leisten können.
Fazit: In ein von Krieg und Hunger gebeuteltes Land schiebt man nicht ab, Punkt.
Das wäre eine unverantwortliche Grausamkeit, die die Situation in Syrien kein bisschen respektiert und gar nicht rechtskonform umsetzbar wäre. Des Weiteren würde es an der Situation in Deutschland nichts substanziell verändern, es würde vermutlich eher der Erholung der Wirtschaft, durch fehlende Arbeitskräfte schaden. Die Vermögensumschichtung nach oben und die Verarmung der breiten Bevölkerung würde es jedenfalls nicht aufhalten. Das liegt nicht an den Menschen, die bei uns Schutz vor Verfolgung, Hunger, Krieg und Tod suchen, sondern an fehlendem Markt und Kapitalkontrolle.
https://www.tagesschau.de/syrien-sieg-rebellen-entwicklung-100.html
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/syrien-damaskus-assad-rebellen-offensive-100.html
https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-offensive-aufstaendische-100.html