Neue EU-Kommission, alte Fronten: Wie gefährlich sind rechte Bündnisse im Europäischen Parlament?
Knapp ein halbes Jahr nach der Europawahl hat das Europäische Parlament die neue EU-Kommission bestätigt. Vorausgegangen waren wochenlange Debatten über die Personalien der 26 Kommissar-Posten.
Zu diesem Anlass hat unsere Redakteurin Paulina Rogg (Kreisverband Konstanz) ein Interview mit der SPD-Europaabgeordneten Vivien Costanzo geführt.
Vivien Costanzo vertritt die SPD im Europäischen Parlament und arbeitet im Ausschuss für Verkehr und Tourismus sowie im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten.
KONTRA: Die Abstimmung über die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat in den letzten Wochen für viele Diskussionen gesorgt. Worum ging es bei dieser Abstimmung und warum war sie so umstritten?
Vivien: Als sich das Europäische Parlament im Juli konstituiert hat, wurde Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin gewählt, auch mit Stimmen der sozialdemokratischen Fraktion. Nach der Sommerpause hat Ursula von der Leyen dann ihre Kommission vorgestellt. Die Kommissarinnen und Kommissare sind so etwas wie Ministerinnen und Minister der EU. Diese Personen hat sie sich jedoch nicht selbst ausgesucht. Jedes Mitgliedsland der Europäischen Union hat das Recht, eine Person für die Kommission zu benennen. Aus diesen Vorschlägen hat von der Leyen schließlich ihre Kommission zusammengestellt. Für jede Kandidatin und jeden Kandidaten gab es sogenannte „Mission Letters“, in denen die geplanten Aufgaben stehen. Das kann man sich wie eine Wochenhausaufgabe in der Schule vorstellen: Es werden die Themen und Zuständigkeiten beschrieben.
In diesem Zuge ist aufgefallen, dass das Thema Gleichstellung überhaupt nicht verschriftlicht war, es ist einfach rausgeflogen. Ebenso waren die Bereiche Beschäftigung und Arbeitnehmerrechte auf 14 verschiedene Kommissarinnen und Kommissare aufgeteilt. Zwar sagen viele, dass das Querschnittsthemen sind, die von allen mitgedacht werden müssen, und dem stimme ich auch grundsätzlich zu. Trotzdem wollten wir eine Person haben, die den „Hut“ aufhat. Diese Rolle übernimmt jetzt die Sozialdemokratin Roxana Mînzatu aus Rumänien.
Ein großer Punkt war auch die Nominierung von Raffaele Fitto von der Fratelli d’Italia zum Vizepräsidenten. Für uns als Sozialdemokratie war da die große Gefahr, dass man jemanden auf diesen Vizeposten setzt, also auf eine höhere Position als die eines normalen Kommissars, der aus einer post-faschistischen Partei kommt. Diese Partei lehnt die EU, wie wir sie kennen, ab. Das war für uns undenkbar.
Darüber wurde über Wochen hinweg verhandelt und im November kam es zu den Anhörungen. Dort mussten sich die designierten Kommissarinnen und Kommissare in ihren zuständigen Ausschüssen vorstellen und Fragen beantworten. Im Transportauschuss musste sich Apostolos Tzitzikostas aus Griechenland uns stellen. Wir haben ihn dann zu unseren Schwerpunktthemen befragt und nach diesen Befragungen hat sich jede Fraktion getroffen, um die Kandidatinnen und Kandidaten für sich zu bewerten: Finden wir die Person geeignet? Lassen wir sie durch oder muss sie sich nochmal dem Ausschuss stellen? Nachdem diese Entscheidung klar war, haben sich die Koordinatorinnen und Koordinatoren der einzelnen Fraktionen getroffen und geklärt, ob es die nötige Zweidrittelmehrheit gibt, oder ob jemand noch Nachsitzen muss. In diesem Zuge musste zum Beispiel der ungarische Kandidat Olivér Várhelyi nachsitzen.
Am Ende ging es um die Frage Vize-Posten. Die Konservativen hatten die Anhörung so gelegt, dass unsere Kandidatinnen, Teresa Ribera und Roxana Mînzatu, am selben Tag geprüft wurden, wie der italienische Vorschlag Raffaele Fitto. Wir haben uns seine Befragung gemeinsam im Büro angehört. Das Problem war, dass Raffaele Fitto alle Frage auf Italienisch beantwortet hat, und bei einer Simultanübersetzung viele sprachliche Nuancen verloren gehen. Ich spreche Italienisch und habe mir die Antworten sowohl im Original als auch in der englischen und deutschen Übersetzung angehört. Da ging schon einiges verloren. Er hat zwar die Einigkeit der EU betont, aber das hat uns nicht zu einer Zustimmung überzeugt. Dabei ging es nicht darum, dass wir über seine Kompetenz urteilen oder ihm das Amt als Kommissar absprechen wollten, schließlich wurde er von Italien demokratisch nominiert. Es ging um die Frage, warum man ausgerechnet ihm, einem Mitglied der Fratelli d’Italia, diese wichtige Position als Vizepräsident anbietet.
KONTRA: Was macht die Fratelli d’Italia so gefährlich?
Vivien: Ich denke, in Deutschland geht es etwas unter, wie gefährlich die Fratelli d’Italia tatsächlich sind. Giorgia Meloni ist Regierungschefin und Vorsitzende der Partei und stellt sich schlau an. Sie versucht sich gerade auf Auslandsterminen sehr angepasst zu geben, sie trägt alle EU-Entscheidungen mit, sie unterstützt die Ukraine und hat gute Beziehungen mit den USA. Man könnte meinen sie sei eigentlich ganz okay. Das ist sie aber nicht, sondern sie ist einfach nur viel schlauer als Orban und Co. Während sie nach außen total angepasst wirkt, ist sie innenpolitisch ziemlich hart unterwegs. Nur subtiler und so langsam, dass man es kaum bemerkt.
Sie hat beispielsweise einem Großteil der Menschen die Grundsicherung per SMS gestrichen. Einfach ersatzlos gestrichen. Sie versucht auch ihre Ideologie in der Medienlandschaft und Kulturarbeit zu verankern, indem sie zentrale Positionen mit Menschen mit ihrer Ideologie besetzt. So versucht sie ganz bewusst, auf die Presseerstattung in Italien Einfluss zu nehmen. Dazu kommen Pläne zum Umbau des Staates. Meloni will beispielsweise, dass die Regierungschefin künftig direkt vom Volk gewählt wird. Damit wäre sie quasi nicht mehr abwählbar und das Parlament massiv geschwächt.
Die Fratelli d’Italia ist eine Partei, die sich über mehrere Generationen aus einer faschistischen Partei entwickelt hat. Der Begriff „Postfaschismus“ wurde durch die Fratelli d‘Italia in Italien massiv geprägt, weil sich die Partei nie zum Faschismus abgegrenzt hat. Gleichzeitig ist sie aber eine demokratische Partei, die unsere demokratischen Grundsätze respektiert. Zwar unterscheidet sie sich damit vom Faschismus, das heißt aber nicht, dass sie ungefährlich ist.
KONTRA: Die SPD hat sich bei der Abstimmung über die Kommission mehrheitlich enthalten, während andere sozialdemokratische Delegationen, wie beispielsweise aus Spanien, für die Kommission gestimmt haben. Warum haben sich die deutschen Sozialdemokraten mehrheitlich enthalten?
Vivien: Wir haben als Abgeordnete bei der Wahl der Kommission im Europäischen Parlament nur eine Stimme. Wir können also entweder alle Kommissare auf einmal wählen oder keinen. Wie erklärt ist ein Vizeposten für Raffaele Fitto eine rote Linie.
Wir leben aber gleichzeitig in einer Zeit, in der Donald Trump die US-Wahl gewonnen hat. Das heißt, wir haben in den USA bald keinen stabilen Partner mehr. Wir hatten in Deutschland das Ende der Ampelkoalition. Die Weltlage ist einfach fragil. Da kommt natürlich die Frage auf: Könnt ihr dann trotzdem gegen diese Kommission stimmen und die EU vielleicht dadurch auch destabilisieren? Ja, wir sehen gerade in dieser instabilen Weltlage die Notwendigkeit, eine handlungsfähige Kommission zu haben. Aber gleichzeitig können wir nicht zustimmen. Deswegen sind wir auf diese Enthaltung gegangen. Auch wenn wir somit unsere Stimme nicht Roxana, Teresa und den anderen sozialdemokratischen Kommissaren geben konnten. Ich habe einen italienischen Pass und für mich war die Situation doppelt schlimm. Für mich war aber von Anfang an klar: Ich kann nicht mit „Ja“ abstimmen.
Letztlich gibt es hier noch eine weitere rote Linie: Die Konservativen haben in den letzten Wochen mehrfach gezeigt, dass sie mit der rechten Fraktionen Mehrheiten bilden. Wir verurteilen dieses Verhalten scharf. Die Brandmauer wie wir sie kennen gibt es auf konservativer Seite nicht mehr.
KONTRA: Die Wahlerfolge rechter Parteien wie der Fratelli d’Italia haben die Dynamik im Parlament verändert. Wie du schon gesagt hast, hat die EVP bereits Positionen mit Stimmen rechten Fraktionen durchbekommen. Wie haben sie das gemacht?
Vivien: Im Europäischen Parlament gibt es drei rechte Fraktionen. Die EKR, zu der die Fratelli d’Italia gehört, liegt zwischen der konservativen EVP und rechten Fraktionen wie die ESN, also der Fraktion der AfD. Die drittgrößte Fraktion im Europäischen Parlament bilden die rechten Patrioten für Europa. Mit dem EKR hat die EVP schon länger ein bisschen zusammengearbeitet, aber nicht systematisch mit allen drei Fraktionen. Die letzte große Abstimmung, in der so etwas dann doch passiert ist, war die Entwaldungsverordnung. Dabei ging es darum, welche Produkte in die EU eingefahren werden können, ohne dass dadurch Wald gerodet wird, zum Beispiel bei Kaffee. Eigentlich war alles geklärt, aber die EVP mit CDU/CSU wollte das Thema nochmal aufmachen und hat Änderungsanträge gestellt. Wir waren dagegen und so hatte die EVP eigentlich keine eigene Mehrheit. Sie bekam aber Unterstützung von den rechten Fraktionen, inklusive der AfD. Das passiert gerade vor allem beim Klimaschutz und bei den sozialen Themen, weil es für die Konservativen einfacher ist die Rechten dabei einzubinden. Für die, haben die Sozis immer was zu meckern, wir kommen immer mit sozialer Gerechtigkeit um die Ecke. Ja, das ist unser Job. Die Rechten, die durften lange gar nichts machen. Die sind froh überhaupt mitmachen zu dürfen und sind ziemlich leicht käuflich. Aber das Problem ist nicht nur die EVP, sondern auch die Liberalen. Die haben mitgestimmt.
KONTRA: Wie wird die die Arbeit mit der EVP also in Zukunft aussehen? Werden wir solche Bündnisse noch öfter sehen?
Vivien: Die Mehrheiten im Parlament sind jetzt wie sie sind. So haben die Menschen in der Europäischen Union gewählt. Damit müssen wir leben und klarkommen. Trotzdem erwarte ich von den proeuropäischen Parteien, dass sie sich jetzt zusammenreißen und zusammenarbeiten. Und das sehe ich auch. Die EVP muss wieder an den Tisch kommen und darf nicht mehr nach rechts blinken. Das ist das Entscheidende.
Ich glaube, wir müssen die Konservativen mehr stellen, und sie erinnern, dass es rote Linien gibt und sie das ernst nehmen müssen. Gleichzeitig müssen wir auch in der Bevölkerung mehr darüber reden, damit die Menschen merken, was da gerade passiert. Das wird unser Job sein, auch mit Blick auf die Bundestagswahl.
KONTRA: Vielen Dank für das Gespräch, Vivien!