Zwischen Realitätsverlust und Verdrängung – Warum die SPD sich der Migrationsdebatte endlich stellen muss

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

In den letzten Tagen wurde viel darüber diskutiert, warum die SPD bei den Wahlen so desaströs abgeschnitten hat. Es gibt viele Erklärungsmuster, eines davon lautet: Wir waren nicht links genug. Diese Erzählung wird bei jeder Wahlniederlage hervorgeholt. Ich wünsche mir einen ökonomischen Linksruck – ich bin ein klarer Befürworter von Vermögens- und Erbschaftssteuern. Ein Artikel von Sebastian Gellweiler (Kreisverband Karlsruhe-Stadt).

Aber ich glaube nicht, dass ein reiner Linksruck unsere Probleme löst. Unsere ehemaligen Hochburgen liegen in Industriestädten wie Duisburg, Gelsenkirchen oder Mannheim. Orte, in denen die SPD früher tief verwurzelt war. Wir verlieren an diesen Orten an die AfD. Der durchschnittliche Arbeiter bzw. die durchschnittliche Arbeiterin wählt AfD.

Bei der Bundestagswahl haben 38 % der Arbeiter:innen AfD gewählt, 22 % die Union – nur 12 % die SPD. Wir haben uns von unserer Kernwähler:innenschaft entfremdet und erreichen mittlerweile unter Akademiker:innen bessere Ergebnisse als unter Arbeiter:innen.

Fragt man ehemalige SPD-Wähler:innen nach den Gründen für ihre Abkehr, nennen sie an erster Stelle Migration, erst danach soziale Sicherheit und an dritter Stelle folgt innere Sicherheit. In unserer Partei gibt es eine Tendenz, jede Diskussion über Migration als Anbiederung an die Rechte abzutun. Oft wird behauptet, das Thema sei ein konstruiertes Problem. Doch die Debatte existiert, sie ist medial präsent und bewegt die Menschen – ob uns das gefällt oder nicht.

Ich halte Grundsätze für wichtig und richtig. Die Rechte und der gesellschaftliche Wert von Mitmenschen mit Migrationshintergrund dürfen nicht infrage gestellt werden. Ohne die Gastarbeiter:innengeneration, ihre Kinder und auch viele der in den letzten Jahren Zugewanderten wäre unsere Wirtschaft heute in einer noch viel schwierigeren Lage. Die Rentenlücke wäre ohne Einwanderung kaum lösbar, und unser Land wäre kulturell ärmer.

Aber wir müssen ehrlich sein: Unsere Haltung – oder besser gesagt unsere fehlende Haltung – in der Migrationspolitik kostet uns Wähler:innen. Wir haben die Debatte viel zu lange den politischen Rändern überlassen.

Es hat eine Akademisierung in der Partei eingesetzt. Die SPD besteht heute zum Großteil aus Akademiker:innen in zweiter oder dritter Generation. Wer in Freiburg oder Karlsruhe lebt, kennt die Lebensrealitäten vieler Menschen in Duisburg oder Mannheim kaum noch. Kein Wunder, dass sich unser Programm heute in vielen Punkten wie das der Grünen liest – inklusive der Sprache, die für viele unserer früheren Wähler:innen kaum noch anschlussfähig ist. Dabei will ich die Grünen gar nicht angreifen – sie haben ihre Zielgruppe und ihre Berechtigung und vertreten ein positives Menschenbild. Aber wir werden in Städten wie Freiburg oder Tübingen nie glaubwürdiger sein als die Grünen. Unsere Zukunft liegt in der Rückgewinnung der Städte, die wir verloren haben.

Ich selbst habe mein Abitur an einer Berufsschule in Bonn-Auerberg gemacht – einem Stadtteil mit 44 % Migrationshintergrund und 10 % Arbeitslosigkeit, direkt angrenzend an Bonn-Tannenbusch, das immer wieder als Salafist:innen-Hochburg Schlagzeilen machte. Ich kann daher aus eigener Erfahrung sagen, dass es leider eben durchaus auch Parallelstrukturen in Deutschland gibt. Werden diese Parallelstrukturen medial überhöht? Sicher. Natürlich ist die tägliche Gewalt gegen Frauen statistisch ein viel größeres Problem als islamistische Anschläge. Und auch rechtsextreme Taten sind eine enorme Gefahr. Aber Menschen fürchten sich häufiger vor dem Fremden als vor dem Vertrauten. Das ist keine böse Absicht, sondern erstmal menschlich.

Auch viele Migrantinnen und Migranten haben diese Sorgen. Auch deshalb wählt ein wachsender Teil von ihnen mittlerweile die AfD. Wenn wir diese Ängste und Erfahrungen nicht ernst nehmen, machen wir uns als Partei überflüssig.

Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir mit dieser Aufmerksamkeit um? Eines ist klar – wir dürfen keine unserer Grundwerte opfern. Wir dürfen uns nicht der rassistischen Sprache der AfD bedienen und müssen fest an der Seite all jener stehen, die sich tagtäglich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen. Auch sollte uns klar sein, dass der 5-Punkte-Plan von Merz oder die Abschaffung des Asyl-Rechts, nicht die Lösung sein kann. Aber wir brauchen klare Antworten darauf, wie wir Parallelstrukturen aufbrechen und eine Null-Toleranz-Politik gegen Extremismus durchsetzen.

Konkret heißt das:
Wir müssen die Polizei personell und technisch besser ausstatten. Behörden müssen vernetzt arbeiten, Informationen austauschen können und zügig handeln. Verwaltungsprozesse müssen digitalisiert werden und wir brauchen eine konsequente Bekämpfung von Hetze in sozialen Medien, und wir müssen die Justiz so entlasten, dass Verfahren nicht jahrelang dauern. Das heißt auch, wir dürfen uns nicht davor scheuen, an heilige Kühe wie den Datenschutz zu gehen.

Das stärkt den Rechtsstaat – und schützt zugleich auch die große Mehrheit der friedlichen Migrant:innen, die längst Teil unserer Gesellschaft sind. Wer Parallelstrukturen und Kriminalität bekämpft, schützt nicht „die Deutschen“ vor „den Ausländern“, sondern schützt alle Bürger:innen, unabhängig von Herkunft oder Religion. Mit diesen Maßnahmen bekämpfen wir nicht nur Islamismus, sondern eben auch Probleme wie Rechtsextremismus und Femizide.

Sicherheit ist nicht nur eine Frage von Kriminalitätsstatistiken – sie ist auch eine Frage des Gefühls. Genau deshalb sind sichtbare, symbolische Maßnahmen wichtig: Mehr Präsenz, klare Kommunikation, spürbare staatliche Kontrolle. Das ist kein Konservatismus, sondern ein sozialdemokratisches Sicherheitsverständnis – denn es sind gerade die sozial Schwächeren, die am meisten unter unsicherem Umfeld und rechtsfreien Räumen leiden.

Die SPD war einmal die Partei, die für soziale Sicherheit und klare Ordnung gleichermaßen stand. Wir müssen diesen Markenkern wiederbeleben. Zwischen den Grünen und der Union gibt es eine riesige Lücke – eine sozialdemokratische Ordnungspolitik, die klar, gerecht und pragmatisch ist. Das wäre keine Anpassung an rechts, sondern die Rückkehr zu unserer eigenen Geschichte.

Wer glaubt, man könne diese Debatte aus Angst vor rechten Narrativen vermeiden, irrt. Wer die Sorgen der Menschen ignoriert, wird irgendwann selbst ignoriert.

Quelle der Statistiken: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-spd.shtml

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