Fußball-WM in Katar – Wo “König Fußball” über Menschenrechte hinweg regiert
Ein Kommentar von Jan Rahner (KV Rastatt Baden-Baden) und Marius Kipfmüller (KV Lörrach)
Na, seid ihr schon in Weltmeisterschafts-Stimmung? Die Fußball-WM der Männer 2022 findet vom 20. November bis zum 18. Dezember 2022 im Golfstaat Katar statt. Auch die deutsche Nationalmannschaft hat sich für die WM qualifiziert und fährt nach Katar.
Könnt ihr euch noch an den Sommer 2014 und die WM in Brasilien erinnern? Millionen fieberten vor dem TV und bei Public Viewings mit der deutschen Nationalmannschaft oder anderen Teams mit. Für Manuel Neuer, Bastian Schweinsteiger und Co. endete diese WM tatsächlich im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro. Über 34 Millionen Menschen vor den deutschen Fernsehgeräten wurden Zeuge, als Sportmoderator Tom Barthels mit den Worten “Mach ihn… mach ihn…. ER MACHT IHN!!!” den Treffer von Mario Götze zum Turniersieg kommentierte. Ein ganzes Land stand Kopf.
Doch in den Turnieren der darauffolgenden Jahre konnte das deutsche Nationalteam nicht wieder an die sportlichen Erfolge anknüpfen. Und auch die Geschichte des größten Fußballturniers der Welt stellt aus unterschiedlichen Perspektiven schon lange keine Erfolgsgeschichte mehr dar. Die WM 2006 wurde mit Hilfe von Schmiergeldern nach Deutschland geholt, der Bau der WM-Stätten in Südafrika 2010 und Brasilien 2014 ging mit der Zwangsumsiedlung und Vertreibung zehntausender Menschen einher und 2018 bot die FIFA mit dem Turnier in Russland dem Diktator und heutigen Kriegsverbrecher Putin eine internationale Bühne. Mit der WM in einem Monat in Katar erreicht diese Geschichte ihren vorerst traurigsten Höhepunkt. Das Turnier assoziieren viele von uns bereits mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung und massiven Umweltbelastungen. Laut Meinungsforschungsinstitut YouGov sind 48% aller Deutschen gegen eine Turnierteilnahme der deutschen Nationalmannschaft. Höchste Zeit also so kurz vor dem Turnier nochmal einen Blick auf die WM in Katar zu werfen.
Golfstaat Katar – Autoritäre islamische Monarchie
Das gastgebende Land der WM 2022 heißt Katar. War es vor wenigen Jahrzehnten noch eine kleine unscheinbare Monarchie auf der arabischen Halbinsel, so hat es sich mittlerweile zu einem einflussreichen internationalen Akteur aufgeschwungen. Katars wirtschaftliches und politisches Kapital ist das Erdgas vor seiner Küste im Persischen Golf. Schätzungen gehen davon aus, dass diese Vorkommen noch bis zu 100 Jahre lang reichen. Katar war das erste Land, das Flüssiggas (sog. LNG) auf den internationalen Markt brachte – eine Ressource, die spätestens seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine und der daraus resultierenden Energiekrise weltweit hoch im Kurs steht.
Katar hat eines der höchsten pro Kopf Einkommen weltweit. Geld ist damit zwar im Überfluss vorhanden, aber es verteilt sich äußerst ungleich auf die Bevölkerung. Von den 2,7 Millionen Einwohner:innen sind gerade einmal 10 % Staatsbürger:innen von Katar, die restliche Bevölkerung setzt sich aus Menschen mit unterschiedlichsten Staatsangehörigkeiten zusammen. Den Großteil machen Arbeitsmigrant:innen aus, die zumeist aus dem indopazifischen Raum oder Afrika stammen. Die männlich dominierte Arbeitsmigration prägt sich auch im Geschlechterverhältnis aus. 73 % der katarischen Bevölkerung sind männlich.
Bis 1971 war Katar britisches Protektorat. Seit der Unabhängigkeit verteilt sich die Macht im Land auf eine einzige Herrscherfamilie, die “al Thani’s”. Sie führen das Land in einer absoluten Monarchie. Auch wenn Katar im Vergleich zu anderen Staaten des arabischen Halbmonds sich in einigen gesellschaftlichen Angelegenheiten progressiver darstellt, so ist die Gesetzgebung nach wie vor an der Scharia ausgerichtet. Frauen haben einen Vormund und dürfen nur mit dessen Erlaubnis ins Ausland reisen, studieren, arbeiten oder heiraten. Männer können mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet sein. Homosexualität ist in Katar verboten und wird mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft.
Das katarische Regime hat sich hauptsächlich, aber nicht nur aufgrund seiner fossiler Energieressourcen zu einem global player aufgeschwungen. Neben Erdgas und Erdöl spielt Katar seine politischen und diplomatischen Fähigkeiten in der Region des Nahen Ostens aus. Es steht zwischen den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien. Die USA haben ihren größten Militärstützpunkt für den Persischen Golf in Katar. Das Land spielt eine zentrale Rolle im Afghanistankonflikt. In Katar kamen viele Taliban nach der Entmachtung 2001 im Exil unter. Außerdem verhandelten die USA unter Trump mit den Taliban den Abzug der westlichen Truppen dort aus. Katar war Drehscheibe für die zivilen Evakuierungsflüge aus Afghanistan nach der erneuten Machtergreifung der Taliban 2021. Auch die USA sind geostrategisch mit dem Golfstaat verbunden, ihr größter Militärstützpunkt in der Region befindet sich auf der katarischen Halbinsel.
Der Rolle als internationaler politischer Akteur fällt aber auch Katars Engagement im internationalen Spitzensport zu. Wie etwa China und Russland bedient sich das katarische Regime ganz bewusst internationaler sportlicher Großereignisse, um damit auf die internationale Politik Einfluss zu nehmen. In den letzten zehn Jahren fanden 6 sportliche Weltmeisterschaften (darunter Handball, Boxen und Leichtathletik) im Land statt. In der katarischen Fußballliga waren bereits bekannte Starspieler wie James Rodrigues und Mario Basler. Katar gehört unter anderem der Fußballverein Paris Saint-Germain. Dem Regime geht es bei all diesen Events und Engagements weniger um den Sport als vielmehr um die dadurch erlangte internationale soft power. Auch die anstehende Fußball-WM dient nichts anderem.
Missachtung von Menschenrechten und Klimadesaster
Menschenrechtswidrige Arbeitsbedingungen
Nachdem Katar im Jahre 2010 den Zuschlag für das Fußballturnier von der FIFA bekam, begannen die Bauarbeiten für die WM-Stätten unmittelbar.
Im gleichen Zuge und erreichten immer mehr Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen die Weltöffentlichkeit. Dabei stehen die WM-Baustellen im besonderen Fokus, obwohl sich Menschenrechtsmissachtungen in Katar auch außerhalb dieser feststellen lassen.
Seit 2010 mehren sich die Berichte über Todesfälle von Gastarbeiter:innen, die im Zusammenhang mit den WM-Baustellen aufgrund widriger Arbeitsumstände gestorben sind. Offizielle Erhebungen hierzu gibt es nicht. Vertreter:innen des katarischen Regimes sprechen von drei arbeitsbedingten (auf den Baustellen) Todesfällen und 37 nicht-arbeitsbedingten (außerhalb der Baustellen) Todesfällen seit 2010. Diese Zahlen sind nicht nur aufgrund ihrer unzureichenden Erhebung (nur etwa 1-2% der Baustellen wurden erfasst) unglaubwürdig, sondern stehen auch im besonderen Widerspruch zu ständigen Berichten von Medien und unabhängigen Nicht-Regierungsorganisationen. „The Guardian“ veröffentlichte im Februar 2021 Todeszahlen von über 6.500 Gastarbeiter:innen, die seit Vergabe der WM in Qatar ums Leben kamen. Amnesty International erfasste 15.021 Todesfälle, die aufgrund der mangelhaften staatlichen Erhebung allerdings nicht mit absoluter Sicherheit dem WM-Bau zurechenbar sind. Die Todesumstände legen den Zusammenhang allerdings sehr nahe, denn die Todesursache des “plötzlichen Herztods” ist übermäßig häufig als offizieller Grund angegeben. Das deutet auf Zusammenbrüche des Herz-Kreislauf-Systems hin, die durch Überarbeitung und extreme Hitze hervorgerufen wurden. Persönliche Berichte von Gastarbeiter:innen bestätigen dies. Damit fielen vermutlich mehr als 10.000 Menschen den Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen zum Opfer. Das ist ein Ausmaß ohne Vergleich, wenn man sich vergangene sportliche Großereignisse anschaut. Ein Recht auf menschenwürdige Behandlung der Gastarbeiter:innen scheint es in Katar nicht zu geben.
Diese eklatanten menschenrechtswidrigen Umstände sind im Beschäftigungssystem Katars strukturell verankert. Seit Jahren gilt für die Gastarbeiter:innen das sogenannte „Kafala“-System. Die Kafala-Gesetze sehen vor, dass ausländische Arbeiter:innen für ihre Aufenthaltserlaubnis eine:n Bürg:in haben müssen. In der Regel ist dies der:die Arbeitgeber:in. Damit wird ein Abhängigkeitsverhältnis der Gastarbeiter:innen zu ihren Vorgesetzten von besonderem Ausmaß geschaffen. Ein Arbeitsplatzwechsel ist nicht ohne Zustimmung des:der Arbeitgebers:Arbeitgeberin möglich, das Land darf nicht ohne Genehmigung durch denselben:dieselbe verlassen werden. Mit der Möglichkeit der unbegründeten und unbefristeten Kündigung eines Arbeitsvertrags haben die Baufirmen außerdem gleichzeitig den Entzug der Aufenthaltserlaubnis in der Hand, da sie gleichsam die bestehende Bürgschaft auflösen können. Die Konsequenz des äußerst asymmetrischen Machtverhältnisses besteht in massenhafter Zwangsarbeit, da Gastarbeiter:innen keine Mittel gegen nicht gezahlte Löhne oder die widrigen Arbeitsbedingungen in der Hand haben, ohne dass sie Gefahr laufen, durch einseitige Vertragsauflösung die Aufenthaltsrechte oder die Existenzgrundlage in Katar entzogen zu bekommen. Häufig werden in der Praxis Ausweisdokumente der Arbeiter:innen von den Arbeitgeber:innen eingezogen und die Nichtzahlung von zustehenden Löhnen ist ständiger Alltag. Auch vermeintliche Reformen im Jahr 2016 änderten an diesem System moderner Sklavenhaltung nichts – lediglich die Begrifflichkeiten wurden geschönt. Ein beschlossener Mindestlohn und ein Abkommen mit der International Labor Organisation sowie die formelle Abschaffung der Genehmigungsnotwendigkeit für Arbeitsplatzwechsel und Ausreise ändern an der Unausgewogenheit des Machtverhältnisses wenig. Denn die frühere Praxis bleibt mangels hinreichendem Kontrollwillen die brutale Realität. Da dieses arbeitsrechtliche Beschäftigungssystem nicht nur für Baufirmen von WM-Stätten, sondern allgemein für alle Unternehmen gilt, werden viele zur Durchführung der WM angestellte Gastarbeiter:innen sich ebenso der modernen Sklavenhaltung opfern müssen.
Presse ohne Freiheit – systematische Verschleierung
Auf der Liste von „Reporter ohne Grenzen“ liegt Katar aktuell auf Rang 128 von 180. Katar fordert die Journalist:innen dazu auf, über den Sport zu berichten. Es ist untersagt in privaten Räumen zu filmen und dabei mit Katarer:innen und Gastarbeiter:innen zu sprechen. Öffentliche Gebäude (Regierungsgebäude, Universitäten, Krankenhäuser, etc.) und Privatunternehmen bleiben dem Zugriff der Presse ebenso verschlossen.
Seit Beginn der WM-Vorbereitungen bemüht sich Katar um die systematische Verschleierung der vielfachen Menschen- und Arbeitsrechtsverstöße. Chat-Protokolle und Insider-Informationen aus Kreisen des katarischen WM-Organisationskomitees belegen, dass kritische Berichterstattung über Arbeitsbedingungen verhindert, werden sollen
Missachtung von Rechten queerer Menschen
Der Staat Katar grenzt queere Menschen nicht nur systematisch aus, sondern verfolgt diese mit großer Härte. Gleichgeschlechtlicher Sex kann in Qatar mit bis zu siebenjähriger Gefängnisstrafe sanktioniert werden. Auch sonst kommt es zu Verhaftungen wegen Online-Aktivitäten von queeren Menschen. Ein starker Ausbau von öffentlicher Überwachungstechnik lässt die Rückzugsräume schwinden und die Bedrohung von staatlicher Verfolgung wachsen. Die Tatsache, dass Katar zwar queere Menschen aus dem Ausland zum Turnier willkommen heißen will, für die eigene Bevölkerung aber keine Veränderung der Rechtslage und Diskriminierung vorsieht, kann nur als Ausdruck dafür verstanden werden, wie Profitinteressen vor Menschenrechte gestellt werden und wie egal den Verantwortlichen in Qatar die Rechte der Queer- Community sind.
Die WM – ein Klimadesaster
Letztlich sprechen auch der besonders hohe Energie- und Ressourcenverbrauch der WM aus klimapolitischen Gründen für die Unvertretbarkeit einer WM-Durchführung in Katar. Trotz der Austragung im Winter ist in Katar auch zu dieser Jahreszeit regelmäßig mit Temperaturen von 30°C und mehr zu rechnen. Um die Stadien und Spielstätten trotzdem entsprechend kühl zu halten, sind riesige Klimaanlagen eingebaut worden, die einen immensen Stromverbrauch mit sich bringen. Katar verfolgt zwar mit einem Ausbau an erneuerbaren Energieträgern, insbesondere der Photovoltaik, eine klimaneutrale WM, deren tatsächliche Umsetzung ist aber äußerst fraglich. Die FIFA selbst rechnet mit einem CO2-Ausstoß von 3,6 Millionen Tonnen, wobei dieser größtenteils durch anreisende Fans produziert würde. Die Emissionen sollen durch umstrittene Kompensationszahlungen ausgeglichen werden.
Unsere Verantwortung
All diese Feststellungen zeichnen das Bild eines Staates, dem Menschenrechte aufgrund der eigenen Profit- und Politikinteressen egal sind. Doch die Verantwortung allein beim katarischen Regime zu suchen, wäre zu kurz gedacht. Die WM ist ein internationales Event und eines, hinter der weltweite wirtschaftliche und politische Interessen stehen. Es sind Interessen, die vor allem darauf fußen, dass ein Millionen- bis Milliardenpublikum die Spiele verfolgt.
Ohne Korruption gehts nicht
Wie bereits anderen Turniervergaben der Fußball-Weltmeisterschaft, allen voran die in Deutschland 2006, ist auch die nach Katar mit Korruption und Bestechung verbunden. Nach wie vor laufen strafrechtliche Ermittlungen. Inzwischen ist es nachgewiesen, dass mindestens zwei der beteiligten FIFA-Funktionäre sich ihre Stimme für die Vergabe nach Katar bezahlen ließen. Viele hochrangige FIFA-Funktionär:innen, die 2010 die Vergabe nach Qatar mitverantwortet haben, sind skandalbehaftet – allen voran der Ex-FIFA-Präsident Joseph Blatter, der 2010 die Vergabeentscheidung verkündete.
Die Schuld von FIFA und nationalen Fußballverbänden
Der FIFA kommt als WM-Organisatorin nicht nur die Verantwortung für die Vergabe der WM nach Katar, sondern unmittelbar auch eine große Verantwortung für die Arbeitsbedingungen und Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen der Vorbereitung, Organisation und Durchführung der WM zu. Der FIFA waren die menschenwidrigen Umstände in Katar früh bekannt, für wirkliche Veränderung ist sie während der gesamten Zeit nicht eingetreten. Als der Turnierträgerin wäre die FIFA die Institution gewesen, die am wirksamsten auf eine Verbesserung der Umstände in Katar hätte hinwirken können. Eigentlich bekennt sich die FIFA sogar selbst in ihren Statuten in Art. 3 zur Einhaltung aller international anerkannten Menschenrechte und verpflichtet sich dazu, zum Schutz dieser Rechte beizutragen.
Zwar betont die FIFA, dass sich in Katar seit Beginn der WM-Vorbereitung vieles in Sachen Menschenrechten auf ihr Wirken verbessert habe. Die auf dem Papier angestoßen Fortschritte spiegeln sich in der Realität jedoch nicht wider.
Auch der Deutsche Fußballbund fährt bisher einen nicht ausreichend deutlichen Kurs. Dieser erklärte nur: Zwar sei die Vergabe eine in vielerlei Hinsicht problematische Entscheidung, einen Boykott erachte man aber als nicht sinnvoll. Unzweifelhaft muss sich aber auch der DFB eingestehen, dass solche Aussagen oder Trikot-Bekenntnisse zur Einhaltung von Menschenrechten, weder zur Verbesserung der Bedingungen der Arbeiter:innen oder der Rechte der queer-Communitiy in Katar, noch zu einer klareren Haltung der FIFA beigetragen haben.
Verantwortung der:des Einzelnen
Die Finanzierung der WM in Katar hängt nicht nur am Geldbeutel der katarischen Königsfamilie. Das Fußballturnier trägt sich nicht ohne seine internationale Aufmerksamkeit. Unternehmen schließen Werbe- und Produktverträge ab. Alle vier Jahre rollen die Produktionsmaschinen von Coca-Cola, Adidas, Panini und co. an, um uns wieder den neusten WM-Merch zu verkaufen. Tausende von Fans reisen in ferne Länder, um ihr Team zu unterstützen und Zeuge eines einzigartigen Spektakels zu werden. Letztlich ist es damit das globale Millionenpublikum, das durch eigene Ausgaben und die Aufmerksamkeit das Turnier zu dem macht, was es ist: Eine riesengroße internationale Geldmaschine. Große Unternehmen sind hier gleichermaßen in der Verantwortung wie die FIFA, der DFB oder der Staat Katar. Aber auch wir alle, jede und jeder Einzelne tragen mit unserer Aufmerksamkeit und etwa dem Kauf von WM-Artikeln eine Mitverantwortung.
Was passiert weltweit und vor Ort?
In vielen Ländern wird immer wieder heftig Kritik an der WM in Katar ausgesprochen, aber noch nirgends ein Boykott. In unserem Nachbarland Frankreich haben viele Städte, darunter auch Paris, Marseille, Lyon, ein Verbot des Public Viewing beschlossen. In Deutschland haben einige Kneipen angekündigt kein WM-Spiel zu zeigen.
Auch vor Ort können sich Kommunen und Kneipen für den Boykott aussprechen, dazu braucht es allerdings starke Stimmen und öffentliche Diskussionen. Eine Kampagne unter dem #boycottqatar findet immer breitere Unterstützung. Kommunen, Einzelpersonen aber auch Sportvereine haben sich unter diesem Hashtag bereits zusammengeschlossen.
Spricht eigentlich etwas gegen einen Boykott?
Der Austragungsort wurde vor mehr als 10 Jahren festgelegt. Die Debatte um einen Boykott kam erst so richtig im Laufe des vergangenen Jahres auf. Die Bauarbeiten der WM-Stätten sind abgeschlossen, Menschen sind gestorben, kein Fußball-Nationalteam hat sich dem Ruf nach Katar widersetzt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Einfluss ein Boykott überhaupt hätte oder ob er nicht gar eher zumindest teilweise angestoßene Entwicklungen in Katar erwürgen würde. Könnte trotz aller Widrigkeiten die internationale Aufmerksamkeit der WM nicht eher nachhaltige Verbesserungen in Katar in Gang setzen?
Auch scheint es widersprüchlich, aufgrund der Menschenrechtsverletzungen und anderer Umstände allein nur die WM in Katar in den Fokus zu rücken. Auch andere Austragungsorte von internationalen sportlichen Großereignissen rühmen sich nicht gerade, Horte von Freiheit und Menschenrechten zu sein. Mit den Olympischen Sommer- und Winterspielen in China stand in den letzten Jahren ein anderes autoritäres Land im Mittelpunkt, dass seine Bevölkerung ständig überwacht und kontrolliert und Minderheiten in sogenannten Umerziehungslagern interniert und foltert. Auch das Gastgeberland der WM 2018 – Russland – steht für alles andere als die Einhaltung des internationalen Rechts. Warum muss ausgerechnet ein international aufstrebendes Land wie Katar Zielscheibe für die Anklage multipler Menschenrechtsverletzungen in der Welt sein?
All das sind begründbare Einwände. Ihnen steht aber auch die Tatsache entgegen, dass wir als Einzelpersonen in den vergangenen Jahren hinsichtlich der WM in Katar nur bedingt die Zügel in der Hand hielten und ein Boykott durch viele Einzelne dennoch ein starkes gemeinsames Signal senden würde. Auch bei Sportereignissen der vergangenen Jahre wurde Kritik geäußert. Dass sportliche Großereignisse positive Entwicklungen für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie mit sich bringen, lässt sich zumindest mit einem Blick auf die jüngste Vergangenheit und ganz konkret nach China und Russland widerlegen.
Bei all dem müssen wir uns aber auch die Frage stellen, wie viel Politik darf der Sport mit sich bringen? Wir könnten uns hier für ein klare Trennung positionieren um den Sport, Sport sein zu lassen. Andererseits würde das ebenso die Realität ausblenden, dass gerade Staaten wie Katar, China oder Russland die Sportevents als politische Instrumente verstehen und nutzen. Vor der Historie wäre es auch verfehlt zu behaupten, der Sport wäre unpolitisch. Schon mit den Olympischen Spielen 1936 in Nazi-Deutschland wurde die Bedeutung des Sports für die politische Bühne missbraucht.
Was soll dieser Artikel?
Mit diesem Artikel wollen wir euch alle wichtigen Fakten zur WM und ihrem Gastgeberland darlegen sowie die Hintergründe der aktuellen Debatte rund um einen möglichen Boykott aufzeigen. Der Artikel möchte kurz vor Beginn der WM nochmals Aufmerksamkeit schaffen. Er ist sicherlich an einigen Stellen mehr meinungsstark als rein informativ, was daran liegen mag, dass die Autoren beide für einen Boykott der WM in Katar eintreten. Als Verband haben wir hierzu allerdings keinen Beschluss. Nichtdestotrotz hoffen wir mit diesem Artikel euch bei eurer Meinungsbildung helfen zu können.