Operation Magnesit – Als KZ-Häftlinge den Goldbacher Stollen bauten

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

Ein Gastbeitrag von Tiark Tiwary (KV Bodensee).

Trotz zahlreicher Sonnenstrahlen ist es kalt an diesem Samstagmorgen. Eine Gruppe von ca. 20 Personen steht vor einem großen grauen Tor unweit des Überlinger Bahnhofs. Es ist der Eingang zu einem Stollen. Die Jusos hatten zu einer Besichtigung von ebendiesem eingeladen. Vor der Besuchergruppe steht Oswald Burger, Historiker, Lehrer und Sozialdemokrat. Er wird die Gruppe heute durch den Stollen führen.

Zu Beginn klärt er über die geringe, aber vorhandene Einsturzgefahr auf. Alle müssen gelbe Bauhelme tragen. Oswald erklärt, dass der von der Gruppe genutzte Eingang erst nach dem Krieg angelegt wurde, nachdem die ursprünglichen Eingänge durch Sprengungen zerstört worden waren. Nach einem kurzen Gang durch den spärlich beleuchteten Stollen erreicht die Gruppe eine größere Halle. Dort steht ein Segelboot. Der Stollen wird heute neben der Gedenkarbeit auch zur Überwinterung von Wohnwagen und Booten genutzt. In der Halle stehen auch mehrere Bildtafeln, an denen Oswald aufzeigt, warum der Stollen überhaupt angelegt wurde. Ende April 1944 wurden bei den Luftangriffen auf Friedrichshafen sämtliche Industrieanalagen zerstört. Die Produktion kriegswichtiger Güter musste ins Umland verlegt werden. Um die Produktion weiter zu sichern, verfügten die Nazis eine unterirdische Produktionsstätte zu errichten. Die Wahl fiel, neben einer weiteren Anlage in Vorarlberg auf Überlingen. Oswald moniert dabei, dass dieser Teil der Geschichte der Friedrichshafener Unternehmen Luftschiffbau Zeppelin, ZF, Dornier und Maybach (später MTU, heute RRPS) gerne „übersehen“ wird. Da die Verfügbarkeit von Arbeitskräften Mitte 1944 bereits rar war, griffen die Nazis auf Häftlinge aus dem KZ Dachau zurück. Im Herbst 1944 kamen rund 700 zumeist politische KZ-Häftlinge in das neu geschaffene KZ-Außenlager Aufkirch. 

Die Gruppe geht weiter und bleibt vor einem Abzweig zu einem unvollendeten Gang stehen. Oswald zeigt ein Tarockspiel. Dieses illustriert die Arbeit und die Umstände im Stollen. Auf einer dieser Karten ist ein verschütteter Häftling zu sehen, auf einer anderen einer der von einem Wachhund gebissen wird. Die Häftlinge mussten die Gänge unter sehr schweren Bedingungen, mit einfachen Mitteln durch den Stein graben. Bei diesen Arbeiten verletzten sich viele, der zusätzlich durch Mangelernährung oder Krankheiten geschwächten Häftlinge tödlich. Anfangs wurden diese in Kisten über die Fähre nach Konstanz gebracht, um im dortigen Krematorium verbrannt zu werden. Über 70 Tote aus dem Stollen verzeichnet das ansässige Krematorium. Ungefähr ab Winter 1944/45 war diese Behandlung der Toten vorbei. Sie wurden undokumentiert in einem Massengrab im nahegelegenen Wald verscharrt. Nach Kriegsende ließ der französische Gouverneur die Toten exhumieren und auf dem Überlinger Landungsplatz als Mahnung an die Bevölkerung aufbahren. Die 97 Toten wurden anschließend auf dem KZ-Friedhof in Birnau bestattet. Dank der Arbeit von Oswald, einem Schulprojekt und weiteren Ehrenamtlichen, konnten diese Opfer mittlerweile namentlich benannt werden.

Die Gruppe erreicht nach einem kurzen Weg wieder eine etwas größere Halle. Dort steht eine halb verrottete, rostüberzogene Lore. Mit einer solchen Lore sei der Schutt aus dem Stollen abtransportiert und in den direkt vor dem Stollen liegenden Bodensee gekippt worden, erzählt Oswald. Die perfekte Möglichkeit zur Flucht? Nein. Die strenge Bewachung des Stollens durch die SS, schloss eine Flucht nahezu aus. Ein russischer Häftling soll nach einem missglückten Fluchtversuch vor den Augen der Mithäftlinge durch einen Wachhund zu Tode gebissen worden sein. Die einzige Ausnahme bildeten der österreichische Häftling Adam Puntschart und der Ukrainer Wassiliy Sklarenko. Ihnen gelang es mit Diesel überschüttet (so konnten die Wachhunde sie nicht aufspüren) und von Steinen bedeckt in einer der Loren zu entkommen. Aufgrund der fehlenden Ortskenntnis mussten sie nachts entlang der Bahnstrecke bis ins schweizerische Schaffhausen laufen. Die Flucht aus Deutschland war so schwierig und daher selten geworden, dass die Schweizer Beamten sie nicht direkt erkannten.

Im fertigen Stollen, sollte mit dem 1. Mai 1945 die Produktion von Rüstungsgütern beginnen. Dazu kam es jedoch nicht. Überlingen wurde am 25. April durch die französische Armee befreit. Die Häftlinge erlebten dies jedoch nicht mehr mit. Sie wurden in der Nacht vom 20. Auf den 21. April mit einem Zug zurück nach Dachau gebracht.

Die Gruppe geht noch ein Stück weiter. Hinter einem schmalen Gang befindet sich ein Posten mit einem Fenster. Hier seien Wachmänner postiert gewesen, die mithilfe von Schusswaffen den Eingang zum Stollen bewachten, erklärt Oswald. Oswald erzählt hier viel über seine Arbeit um die Gedenkstätte. Bis zu deren Tod, stand er regelmäßig in Kontakt mit einigen Überlebenden des Stollens. Regelmäßig finden Gedenkveranstaltungen im Stollen statt, an denen einige von ihnen teilnahmen. Für die Überlebenden war der Bau des Stollens immer zwecklos gewesen. Oswald berichtet von der Flugzeugkollision über Überlingen 2002. Damals stießen nachts zwei Flugzeuge zusammen. Eines davon besetzt mit vielen Kindern auf dem Weg von Baschkirien im Ural zu einer Ferienfreizeit in Spanien. Nach dem Absturz mussten die Leichname der Verunglückten an einem kühlen Ort untergebracht werden. Da es in der Bodenseeregion schlicht keine Kühlhauskapazitäten für so viele Tote gab, entschied man die Lagerung und Identifizierung der Toten im Goldbacher Stollen vorzunehmen. Oswald berichtet, dass viele der noch lebenden Häftlinge damit ihren Frieden mit dem Stollen schließen konnten. Der Stollen habe, so zitiert Oswald einen Häftling, wenigstens ein einziges Mal eine sinnvolle Verwendung gefunden. Mit diesen eindrucksvollen Worten beendet Oswald die Führung durch den Stollen. Wieder am Tageslicht angelangt wird mir klar, wie wichtig die Arbeit in den Gedenkstätten ist. Aus dem Goldbacher Stollen gibt es keine Zeitzeugen mehr, dennoch kann ihre Geschichte durch die Gedenkstätte am Leben gehalten werden.

Wer mal am Bodensee ist und die Zeit für einen Besuch im Goldbacher Stollen hat, sollte das machen. Führungen werden zurzeit immer am ersten Freitag im Monat um 17:00 Uhr angeboten. Alle Infos findet ihr unter: https://www.stollen-ueberlingen.de/

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