Koalition oder Chaos: Ein Plädoyer für Realismus
Gute Politik agiert nicht im luftleeren Raum; sie ist sich der real existierenden Möglichkeiten und Alternativen bewusst – und auch dessen, dass gerade dadurch die richtigen Entscheidungen oft schwerfallen. Ein Artikel von Lars Augustin (KV Lörrach).
Den Koalitionsvertrag der potenziellen schwarz-roten Regierung zu verteidigen, ist auf keinen Fall einfach. Trotzdem möchte ich mich hier für das erzielte Verhandlungsergebnis aussprechen und darlegen, warum eine Nein-Stimme keine echte Lösung ist. Ich möchte hier nicht einzelne Punkte auf die Waage legen – etwa Rückschritte beim Thema Bürgergeld mit einem höheren Mindestlohn zu vergleichen finde ich problematisch. Vielmehr möchte ich mich auf die aktuellen Realitäten rund um den Koalitionsvertrag konzentrieren.
Die zentrale Frage ist eine nach den Alternativen. Wir stehen vor einer Entscheidung mit zwei Optionen: Ja zu dem vorliegenden Koalitionsvertrag und einer schwarz-roten Regierung – oder Ja zur Ungewissheit und zu dem politischen Chaos, das drohen könnte. Diese Aussage liest sich wie Angstmache, eine passendere Formulierung ist mir jedoch nicht eingefallen. Es lohnt sich die möglichen Ausgänge bei einer Mehrheit gegen das Votum zu betrachten:
Option Eins: Neuverhandlung des Koalitionsvertrages. Eine Ablehnung der Einigung mit dem Ziel, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, mag auf den ersten Blick sehr reizvoll erscheinen. Diese Option kommt jedoch mit einem sehr hohen Risiko: Ob die CDU bereit wäre, zurück an den Verhandlungstisch mit der SPD zu kommen, ist fragwürdig. Bereits jetzt gibt es kritische Stimmen innerhalb der CDU. Mitglieder und Funktionär*innen, die gegenüber einer Zusammenarbeit mit der AfD aufgeschlossen wären, würden durch eine solche Ablehnung gestärkt werden.
Option Zwei: Neuwahlen. Laut aktuellen Umfragen wären keine anderen Mehrheiten nach einer Neuwahl zu erwarten. Wenn überhaupt, würde die AfD dazugewinnen. Dass rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien gestärkt aus Neuwahlen infolge gescheiterter Koalitionsverhandlungen hervorgehen, ist ein Muster, das in anderen Ländern klar zu erkennen ist [1] [2] [3].
Option Drei: CDU-Minderheitsregierung. Zuerst müssen wir uns bewusst machen, dass eine Minderheitsregierung bei den aktuellen Mehrheiten immer CDU-geführt wäre. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass eine Alleinregierung der CDU schlecht ist, besonders, weil hier wichtige Entscheidungen mit den Stimmen der AfD getroffen würden.
Option Vier: Schwarz-Blau. Die Tür für eine schwarz-blaue Koalition – oder auch nur schwarz-blaue Mehrheiten – offenzulassen, wäre ein katastrophaler Fehler. Größer als der Schaden für unsere Demokratie wären die gravierenden Konsequenzen für Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und queere Menschen und andere benachteiligte Gruppen. Eine Situation, in der die AfD einen Platz am Tisch hat, ist um jeden Preis zu verhindern.
Dem Koalitionsvertrag zustimmen bedeutet nicht, den Machterhalt von Vorsitzenden oder Minister*innen zu unterstützen. Vielmehr ist es die einzige akzeptable Option in der aktuellen Situation. Jede der genannten Alternativen würde materiell den Menschen schaden, die wir repräsentieren sollten. Es ist ohne Frage an der Zeit, einen Wechsel an der Spitze vorzunehmen, doch eine Regierungsbeteiligung als Meinungsäußerung hierzu zu verwenden, ist unangemessen.
Letztlich möchte ich noch auf ein Argument eingehen, welches ich in den letzten Tagen wiederholt gehört habe: Man stimme gegen den Koalitionsvertrag, weil „er sowieso angenommen wird“. Doch wenn wir eines die letzten Monate gelernt haben, dann ist es, dass nichts sicher ist. Das Argument hat jedoch bereits in sich einen gewissen Widerspruch: Wenn man überzeugt wäre, dieser Koalitionsvertrag wäre grundlegend falsch, dann würde man dagegen stimmen, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit der Annahme. Man ist sich also der Notwendigkeit dieses Dokumentes bewusst, stimmt aber trotzdem dagegen. Wie bereits erwähnt, halte ich dieses Votum für den falschen Moment, um lediglich ein symbolisches Signal zu senden. Dafür ist die Situation zu ernst – in unserem Land und für Europa.
Die Sozialdemokratie erhielt im Februar ihr schlechtestes Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg bei einer Bundestagswahl. Wir müssen akzeptieren, dass weder in der Politik – sei es im aktuellen Bundestag oder in Umfragen – noch in der Gesellschaft derzeit progressive Mehrheiten existieren. Die Antwort darauf muss sein, dass wir diese Mehrheiten auf der Straße, im Internet und durch persönliche Beziehungen erkämpfen. Um den ehemaligen Labour-Parteivorsitzenden Neil Kinnock zu zitieren: Eine Wahl wird nicht in Wochen gewonnen, sondern in Jahren. Kurzfristig gibt es nur wenige Alternativen, und keine, die progressivere Politik ermöglichen könnte. Ich werde dem Koalitionsvertrag zustimmen – nicht, weil ich mit allen Punkten einverstanden bin, sondern weil jede Alternative ein Spiel mit dem Feuer ist.
[1] Wahl zum 14. Cortes Generales November 2019
[3] Wahlen zur bulgarischen Nationalversammlung seit 2021
